Leseprobe "Welche Welt ist meine Welt?"

Hilde Spiel, Memoiren

Leseprobe < Welche Welt ist meine Welt? >"


Während uns die englische Welt mehr und mehr entglitt, wiewohl wir’s nicht wahrhaben wollten, streckte die Welt unserer Herkunft unzählige Fühler nach uns aus. Diese Fühler wurden zu Fangarmen uns holten schließlich mich, wenn auch nicht Peter (Anm. Hilde Spiels erster Ehemann, Peter de Mendelssohn), an meinen Ursprung zurück. Sankt Wolfgang erwies sich als der stärkste Magnet. Daß wir aber nach einigen Sommern vorübergehender Aufenthalte in der Villa Tyrol am See ein Häuschen erwerben konnten, dort sesshaft wurden zumindest für einige Monate im Jahr, wurde uns ermöglicht durch einen Glücksfall, der unsere stets unzureichenden Finanzen im entscheidenden Augenblick um den erforderlichen Betrag vermehrte.

Eines der schönsten Bücher Peters hieß „Schmerzliches Arkadien“, und noch wohlklingender in der französischen Übersetzung, „Douloureuse Arcadie“. Seit langem hat Julien Duvivier, einer der bedeutendsten Filmregisseure Frankreichs, Rechte an seinem Lieblingsbuch zu erwerben versucht. Im März ruft aus Paris der Agent André Bernheim an und fragt im Namen Duviviers nach den Rechten an „Douloureuse Arcadie“. Peter soll seinen Preis nennen. Man einigt sich denn auf tausend Pfund, einen für uns großen, im Vergleich zu den Gesamtkosten des Films lachhaft geringen Betrag. Nach ein paar Wochen ist der Regisseur selbst am Telefon und bittet Peter, sein Drehbuch zu lesen und dann in die Originalsprache zu übersetzen. Und im August fahren wir auch schon in unserem „neuen“, natürlich gebraucht erstandenen Wagen, mach Hohenschwangau, wo Duvivier sich mit seinem Team eingenistet hat. Wir sehen ein paar Tage lang der Filmerei zu und begeben uns dann auf der Suche nach einem nicht allzu teuren Baugrund, ständig dazu ermuntert von Alexander Lernet-Holenia. Es zeigt sich, daß ein Anwesen an der unteren Grenze des herrlichen Lernetschen Naturparks unter Umständen in unser Eigentum übergehen kann. Es liegt am Dittelbach, einem Wildgewässer, das Oberösterreich und Salzburg voneinander trennt, und nicht weit vom See.

Aufregende Wochen. Am 10. September beginnen die Dreharbeiten im nahen Fuschl, am Tag darauf erwerben wir das, erst später von uns genannte, „Haus am Bach“.

Als ich 1952 in einer Londoner Buchausstellung der Anglo-Austrian Society einen Vortrag über die österreichische Literatur der Gegenwart hielt, hatte sich Canetti, von mir wohlbemerkt, unter die Zuhörer gemischt und gewartet, ob sein Name fallen würde. Nachdem dies geschehen war, entfernte er sich sofort, während ich weitersprach. Jetzt ist er, vermutlich im ersten Jahr unserer Niederlassung im Haus am Bach, nach dem Abendessen zu Besuch gekommen und erregt bei den anderen Gästen – Alexander Lernet-Holenia, Franz Theodor Csokor und Leo Perutz – zunehmend Ärgernis, indem er erklärt, wer für Geld schreibe, bringe nichts Ordentliches zustande.

Peter zittert vor Wut und braust endlich auf: er habe keinen Heller ererbtes oder erspartes Vermögen, aber eine Familie, die er mit Auftragsarbeiten, ja selbst mit dem von Canetti empörten Journalismus erhalten müsse. Da greift Leo Perutz ein. Er sagt ruhig und mit großer Würde: „Ich habe noch keine Zeile von Herrn Mendelssohn gelesen, die nicht vorzüglich gewesen wäre.“ Canetti verstummt und wird sich in London durch üble Nachrede an uns rächen. Mir aber ist kürzlich der zweite Band seiner Memoiren in die Hände gefallen, in dem er davon berichtet, wie er mit zwanzig Jahren in Berlin Berthold Brecht gegenüber die gleich Meinung vertrat. Brecht hat damals erwidert: „Ich schreibe nur für Geld. Ich habe ein Gedicht über Steyr-Autos geschrieben und dafür ein Steyr-Auto bekommen.“

Im Jahr nach seinem „Affront“ gegen den Minister ist Thomas Bernhard (Anm. Thomas Bernhards Brandrede 1968, anlässlich der Verleihung des Förderpreises des Unterrichtsministeriums für seinen Roman „Frost“. Hilde Spiel hatte sich dafür eingesetzt, dass er an ihn verliehen würde) wieder einmal für den Tag aus seinem Hof in Obernathal zu mir nach Sankt Wolfgang gekommen. Er trifft gewöhnlich gegen elf Uhr ein, wir gehen spazieren, essen gemeinsam auf der Terrasse, trinken nach der Mittagsruhe Tee, gegen Abend entfernt er sich wieder. Diesmal tauch zum Tee, durch das Eisentürchen zu seinem Park, Alexander Lernet auf, den ich im Ausland wähne. Auch er ist damals mit den anderen Leutchen der österreichischen Literatur aus dem Audienzsaal gestürmt, um den Preisträger in seiner Schande allein zu lassen. Aber warum hätte Lernet-Holenia, ein Dichter vom alten Schlag, den die Furcht, von den Spätergeborenen überholt zu werden, stets zu wilden Ausbrüchen gegen den Nachwuchs drängt – warum hätte er sich für diesen ihm unheimlichen Menschen einsetzen sollen, dessen Rede auch ihn verstört hat?
Hier trifft er nun bei uns auf einen gepflegten, ländlich gewandeten Besucher, in dem er Thomas Bernhard nicht erkennt – oder erkennen will. Wer der Besucher denn sei, erkundigt er sich. Wir beginnen zu lachen. „Nennen wir ihn doch einfach Rumpelstilzchen“, sage ich, und Lernet, Ungutes ahnend, aber selbst schrullig genug, um sich mit der Antwort zu begnügen, läßt sich mit Bernhard auf eine höfliche Unterhaltung ein. Man redet über die Leiden und Freuden des Landbesitzes, über böswillige Nachbarn und streitsüchtige Anrainer. Und so gut verstanden die beiden einander, daß keiner Miene macht aufzubrechen, und beide sich gern auf ein rasch bereitetes Nachtmahl einladen lassen. Nachdem Bernhard sich empfohlen hat, fragt Lernet, wer der angenehme Gast denn wirklich sei. Ich sage es ihm. Er lächelt ungläubig. Oder nur verschmitzt?